34. Kapitel
Hier riecht's ja himmlisch!«, erklärte Mikhail ehrfürchtig, als er das Wohnzimmer betrat. Angelica und Violet saßen an einem großen, rechteckigen Tisch mit Feingebäck und Törtchen und grinsten ihn mit vollen Backen an.
»Was ist denn das hier?« Mikhails Blick schweifte verblüfft über die zahlreichen Teller und Platten, die auf der Tischdecke standen. »Und wo sind die Kinder?«
»Die Kinder schlafen«, sagte Angelica, nachdem sie endlich ihren enormen Bissen heruntergeschluckt hatte. »Und das da, Bruderherz, passiert, wenn man eine Frau wie Nell im Haus hat!«
»Sie hat das alles gemacht?« Mikhail war beeindruckt, obwohl er wusste, was sie konnte.
»O ja!« Violet kicherte wie ein Schulmädchen und nahm sich eine kandierte Pflaume. »Hast du schon mal so viele Köstlichkeiten auf einmal gesehen? Obstkuchen, kandierte Pflaumen, Toffees, Kuchen, Biskuits, Hörnchen, Lebkuchen ... und schau, da, sie hat sogar extra Himbeer-Cranachan für Patrick gemacht. Er wird sich riesig freuen! Es ist, als hätte man ein Stück Schottland hier direkt auf dem Tisch.«
Mikhail nahm Angelica den Silberlöffel weg und probierte das Cranachan. Er schloss ekstatisch die Augen.
Perfekt, einfach perfekt! Geröstetes Hafermehl, verrührt mit dicker süßer Sahne, dazu Honig und der seidige Geschmack von frischen Himbeeren und einem Schuss Whisky. Das schottische Dessert war zum Sterben gut!
»Unglaublich, was?« Angelica nahm Mikhail ihren Löffel wieder weg.
»Allerdings. Und wo ist die, der wir all das zu verdanken haben?«, erkundigte sich Mikhail.
Violet nahm sich noch eine kandierte Pflaume und deutete damit zur Tür. »Sie ist in der Küche. Macht gerade eine ›Atholl Brose‹ oder so ähnlich.«
»Atholl Brose? Was ist denn das?« Davon hatte Mikhail noch nie etwas gehört.
»Für Margarets Teeparty«, erklärte Angelica gut gelaunt. »Und warum nicht etwas servieren, das nach dem Herzog von Atholl benannt wurde? Sie fand es passend. Ich übrigens auch.«
»Verstehe«, sagte Mikhail. Dann kam ihm der Gedanke, dass er hier ja einen idealen Vorwand hatte, die Köchin aufzusuchen. Er erhob sich. »Will mal sehen, wie die Neuerfindung schmeckt. Klingt interessant.«
Angelica hob skeptisch die Braue; sie schien ihm seine Ausrede nicht abzukaufen. Er war schon fast an der Tür, als Violet ihn aufhielt.
»Würdest du Nell bitte sagen, dass Lord Pemberville schon wieder eine Karte geschickt hat?«
»Eine Karte?« Mikhail runzelte die Stirn.
»Ja. Seit dem Ball schickt er ihr andauernd Karten und Blumen.« Violet lächelte. »Ich finde es nett, dass sie einen Verehrer hat.«
Mikhail der den forschenden Blick seiner Schwester bemerkte versuchte sich seinen aufsteigenden Ärger nicht anmerken zu lassen.
»Warum auch nicht«, erklärte er und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Er brauchte eine Weile, bis er die Küche in Alexanders Haus gefunden hatte. Nicht dass sie so versteckt gelegen hätte, er hatte nur noch nie Grund gehabt, sie aufzusuchen. Aber schließlich fand er den überraschend hellen und freundlichen Raum. Nell stand mit dem Rücken zu ihm vor einer breiten Anrichte und rührte summend in einer großen Schüssel.
Sosehr er sich auch über Pembervilles Unverfrorenheit ärgerte, bei diesem Anblick musste er doch lächeln.
Außer natürlich, ihre Fröhlichkeit hatte etwas mit diesem verfluchten Kerl zu tun!
»Wie kannst du ein solches Verhalten erlauben?«
Sie erstarrte, den großen Holzlöffel reglos in der Hand, während Honig von dem Löffel in die Schüssel tropfte. Mikhail lehnte sich an die nächstbeste Wand, und wartete darauf, dass sie sich zu ihm umdrehte.
Nell ließ den Löffel in die Schüssel sinken und wandte sich langsam zu ihm um. Sie trug ein hübsches grünes Tageskleid, darüber eine blütenweiße Schürze, an der allerdings bereits Honig- und Mehlflecken waren. Auch ihre Schulter und ihre Wange war mit Mehl bestäubt.
»Wünsche ebenfalls einen guten Tag, Prinz Belanow«, sagte sie beherrscht. »Würden Sie mir erklären, was Sie mit dieser Frage meinen? Ich verstehe nicht, um welche Art von Verhalten es sich handelt.«
»Spiel nicht die Unschuldige, Nell. Lügen passt nicht zu dir.«
Mikhail hätte gute Lust gehabt, die Entfernung zwischen ihnen zu überbrücken und ... Ja, was? Er wollte sie schütteln, fürchtete aber, sie am Ende doch bloß wieder zu küssen. Verdammt, das war unmöglich!
Zu seiner Überraschung wurde Nell zornig. »Gerade du willst mir von Unschuld predigen? Weißt du was, Mikhail Belanow? Du und Lady Denver, ihr habt einander verdient! Da kann ich nur von ganzem Herzen gratulieren!«
Wovon redete sie?
»Wovon redest du?«
»Oder ist es Lady Anne? Ich verliere allmählich den Überblick!«
»Worüber?«
Nell warf wütend das Geschirrtuch zu Boden, mit dem sie ihre Hände saubergewischt hatte, und tat einen Schritt auf ihn zu. »Ach, egal! Was willst du hier? Warum bist du überhaupt gekommen? Um mich zu quälen? Mich als Lügnerin zu beschimpfen? Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe, Mikhail? Lass mich in Ruhe!«
Auch er trat nun zornig einen Schritt auf sie zu. »Du willst, dass ich gehe? Keine Angst, ich verschwinde! Aber eins lass dir gesagt sein: Du solltest besser darauf verzichten, dich mit anderen Männern einzulassen, solange du nicht sicher weißt, ob du nicht mein Kind unter dem Herzen trägst!«
Nell sah aus, als ob sie geohrfeigt worden wäre, und ihm erging es ähnlich. Wo war dieser Gedanke auf einmal hergekommen? Bis zu diesem Moment hatte er überhaupt nicht an so eine Möglichkeit gedacht. Es war keine Zeit dazu gewesen, sie hatten ja schon am Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht fliehen müssen ... Und später war es ihm einfach entfallen, aber jetzt, wo er daran dachte, dass es möglich wäre ... Ein Kind mit Nell ... Eine eigene Familie gründen?
Mikhail wurde von einer so starken Sehnsucht gepackt, dass er einen Moment die Augen schließen musste. Als er sie wieder aufmachte, fiel ihm als Erstes Nells aschfahles Gesicht auf.
»Nell ...?«
»Nein!«, stieß sie wild hervor und schaute ihn mit riesigen Augen an. Augen, in denen so etwas wie Panik stand.
Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie fand den Gedanken also abstoßend?
»Wenn dich der Gedanke an ein Kind von mir so anwidert, dann hättest du dich nicht von mir anfassen lassen dürfen!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Schick mir eine Notiz, wenn du dir sicher bist. Ich wüsste nicht, was wir uns noch zu sagen hätten.«
Mit wild schlagendem Herzen stürmte Mikhail aus der Küche. Dass Nell zu Boden sank und in Tränen ausbrach, bemerkte er nicht mehr.